Berlin, Dezember 2009
Herr Mankell, lassen  Sie uns über Wallander sprechen – oder sagen Sie Kurt? 
 
  Wallander,  für mich ist er Wallander.
  
Wie sind Sie vor über 20 Jahren auf die  Figur des Wallander gekommen?
 
  Es ist  genau 20 Jahre her. 1989, das Jahr in dem wir sehr deutlich sahen, dass sich in  Europa eine Menge tut: der Fall der Berliner Mauer und all das. Ich wollte  etwas über die großen Veränderungen, die in Europa im Gange waren, schreiben.  Aus diesem Grund habe ich eine Kleinstadt im Süden von Schweden gewählt. Am  Anfang hatte ich gar nicht vor, mehr als ein Buch mit Wallander zu schreiben,  aber ich erkannte schnell, dass ich mit ihm eine Art Instrument geschaffen  hatte, das ich benutzen konnte, um viele Geschichten zu erzählen. Zunächst war  mir das alles aber gar nicht so klar. Ich schrieb ein Buch, dann zwei, dann  drei, dann vier Bücher und dann erst wurde es eine Reihe.
  
Dieser Wallander hat  Sie jetzt so viele Jahre hinweg begleitet, er ist Ihre berühmteste Figur  geworden. Wie ist Ihre Beziehung zu ihm?
 
  Wir  kennen uns sehr lange, das stimmt. Aber wenn ich mir vorstelle, er wäre eine  wirkliche Person, also jemand, der jetzt hier bei uns sitzen könnte – ich denke  nicht, dass wir Freunde würden. Er hat eine Menge Charakterzüge, die ich so  ganz und gar nicht mag. Die Art wie er Frauen behandelt zum Beispiel. Oder wie  er mit sich selbst umgeht: Er isst schlecht, er trinkt zuviel, und er  interessiert sich für meinen Geschmack zu wenig für Politik.
  
Aber Sie lieben  beide die italienische Oper. 
 
  Das  ist richtig. Außerdem arbeiten wir beide ziemlich viel. Über ein bisschen  könnte man also sprechen.
  
  
  
    
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      | Der Autor Henning Mankell, Copyright Lina Ikse Bergmann | 
    
  
  
  
  
  Wenn Sie einen Kriminalroman schreiben,  beschäftigen Sie sich ja nicht nur mit Wallander, also der Person, die alles  aufklärt und zum Guten führt, sondern Sie haben ja eigentlich als Autor eine  Menge Dreck am Stecken: sie haben mehrfach gemordet. Das heißt, Sie haben auch  in der Psychologie des Mörders gelebt. Haben Sie schon einmal eine tatsächlich  existierende Person im Geiste umgebracht? 
  Ich  glaube, das habe ich – auf dieselbe Art und Weise wie Sie das auch getan haben.  Ich glaube, es gibt keinen Mensch, der nicht schon mal so verärgert war, sich  nicht den Tod eines anderen Menschen zu wünschen. Ich glaube, wir denken das  alle mal, aber wir setzen es natürlich nicht in die Praxis um. Wenn Leute  sagen, dass sie so etwas noch nie gedacht haben, glaube ich ihnen einfach  nicht.
  
Sind Sie, wenn Sie  schreiben, ein moralisch freier Mensch? 
    Ja,  ich glaube schon. Aber es gibt auch eine Seite, wie immer in der Kunst, die hat  eine moralische, eine ethische Dimension. Du schreibst und Du willst irgendwie,  dass die Welt dadurch besser wird. Das klingt sehr fantastisch, aber ich denke,  dass diese ethische Dimension immer existiert.
    
Es ist jetzt 10 Jahre her, dass Sie Die  Brandmauer geschrieben haben. Damals sagten Sie, dies sei Ihr »letzter«  Wallander-Roman. Natürlich fragt sich jetzt jeder, was Sie bewogen hat, doch  noch einmal zu ihm zurückzukehren?
 
    Ja, manchmal irrt man  sich. Als ich 
Die Brandmauer beendet  hatte, dachte ich wirklich, dass mit Wallander Schluss sei. Und bis vor fünf  Jahren war ich auch noch fest davon überzeugt. Aber dann bekam ich plötzlich  das Gefühl, dass noch etwas fehlte. 
  
Was denn?
 
    Ich bemerkte, dass es  keine Geschichte über Wallander selbst gab. Alle neun Bücher handelten immer  nur von ihm im Zusammenhang mit einem Fall. Aber sehen wir doch einmal  Wallander selbst als Rätsel: Wer ist dieser Mann eigentlich? Auf diese Frage  gab es für mich keine befriedigende Antwort. Also beschloss ich, doch noch ein  Buch zu schreiben. Aber diesmal ist es wirklich das letzte.
    
Auch für Ihren Ermittler ist eine lange  Zeit vergangen. Das Buch beginnt im Jahr 2007, doch beschäftigt es sich diesmal  nicht mit der Gegenwart, sondern mit dem Kalten Krieg. Der Schwiegervater von  Wallanders Tochter Linda verschwindet spurlos und es scheint, als liege der  Schlüssel irgendwo in seiner Vergangenheit als hohes Mitglied der schwedischen  Marine. Es geht um Politik, Spionage und Landesverrat. Warum haben Sie kein  aktuelles Thema gewählt? 
 
    Wallander und ich sind  ein Jahrgang. Wenn ich also etwas über seine Persönlichkeit erzählen wollte,  musste ich ein Thema finden, dass zugleich die Ära beschreibt, die uns geprägt  hat. Etwas, das sein Leben beeinflusst hat, auch wenn er das bis dahin  vielleicht nicht wahrgenommen hat. Also habe ich über die verschiedenen  politischen Skandale nachgedacht, die ich im Laufe meines Lebens in Schweden  erlebt habe. Wallander ist kein politischer Mensch. Aber ich wollte ihn einmal  zwingen, sich mit seiner eigenen Zeit auseinander zu setzen. Für unsere  Generation ist diese Zeit vom Kalten Krieg bestimmt. Dieser Konflikt war ein  Teil unseres Lebens.
    
Der Feind im Schatten hat einen realen  Hintergrund. Ein U-Boot spielt eine wichtige Rolle. Können Sie kurz umreißen,  was da in den achtziger Jahren in Schweden genau passiert ist? 
 
    Im Herbst 1982 gab es  einen plötzlichen Alarm bei der Schwedischen Marine, sie hatten vor Stockholm  U-Boote gesichtet. Die Marine fing an, die U-Boote zu jagen, aber sie bekamen  nie eines zu fassen, geschweige denn zu sehen. Doch alle behaupteten damals,  dass es russische U-Boote seien. Zur gleichen Zeit wurde Olof Palme erneut  Premierminister. Es wurde ein Komitee gebildet, um herauszufinden was wirklich  passiert war. 1983 dann, an einem Tag im März, bekam Palme den Bericht des  Komitees. Er wurde so wütend, als er den Bericht las, dass er ihn wegschmiss  und rief: Wo zur Hölle sind die Beweise, dass es russische U-Boote waren? Doch  es gab keine Beweise. Das ist der Hintergrund. Ich habe einen Weg gefunden, wie  ich den heutigen Wallander mit diesen Ereignissen verbinden konnte.
    
Kurt Wallander muss in dieser  Geschichte erkennen, wie wenig Ahnung er von Politik und dem geschichtlichen  Kontext hat. Er hat sich nie dafür interessiert. Zum Beispiel war für ihn als  junger Familienvater der Umzug von Malmö nach Ystad wichtiger als die Frage, ob  Schweden der NATO beitreten sollte. 
 
    Ja,  das ist der Unterschied zwischen uns, ich bin ein sehr politischer Mensch. Deshalb  war es für mich interessant, darüber zu schreiben. Ich  erinnere mich sehr genau daran, wie es war, als die Mauer gebaut wurde und wie  es war, als sie fiel. Wie es war, nach Ost-Berlin einzureisen und wie es war,  als die Stadt wieder vereint war. Das sind einzelne Ereignisse, aber dazwischen  liegt im Grunde der ganze Erfahrungshorizont unserer Generation. Auch wenn man  das im Privatleben eines Einzelnen vielleicht nicht bemerkt hat. Es war die  Zeit, in der »wir« einen einzigen Feind hatten, und der kam aus dem Osten.
    
Waren Sie selbst oft  in der DDR? 
 
    Ich  bin für das Theater häufig nach Ost-Berlin gefahren. Ich war oft im Berliner  Ensemble und habe sogar Helene Weigel noch erlebt. Damals fuhr ich entweder  direkt mit dem Zug oder kam über den Check-Point Charlie. Von heute aus  erscheint einem das sehr unwirklich. Was mich aber wirklich erschreckt, wenn  ich an diese Zeit denke, ist die Frage: Warum habe ich nicht viel früher  erkannt, dass dieses System zum Scheitern verurteilt ist? Dass so ein Staat nicht  funktionieren kann. Stattdessen haben wir es einfach so hingenommen, haben es  akzeptiert.
    
An einer Stelle des  Romans spielt auch ein ehemaliger Stasi-Offizier der DDR eine Rolle. Warum  taucht der da auf? 
 
    Ich  wollte daran erinnern, dass Schweden ziemlich eng verbunden ist mit dem, was in  Deutschland vor sich ging. Schweden ist ein Land, in das Deutsche mit dunkler  Vergangenheit schon immer gerne geflohen sind, um sich dort eine neue Identität  aufzubauen. Nach dem 2. Weltkrieg waren es Nazis; nach dem Zusammenbruch der  DDR ehemalige Stasi-Leute oder Personen, die anderweitig etwas zu verbergen  hatten.
    
Sie spielen auf das  DDR -»Sportwunder« an. 
    Ja, es  gibt in meinem Buch einen Mord, der Wallander auf die Spur des Doping-Wunders  führt. Diese absolut fürchterliche Art und Weise, den Körper mit chemischen  Substanzen zu behandeln. Das war der Kalte Krieg mit anderen Mitteln. Ein  großer Betrug…
    
…an den aber alle  geglaubt haben… 
 
    Militärisch  war es genauso. Wir haben uns von Paraden beeindrucken lassen, ohne zu  bemerken, wie schwach die Sowjetunion in Wahrheit war. Auch Schweden hat eine  Menge Geld in sein Verteidigungssystem gesteckt.
    
Aber Schweden war  ein neutrales Land. 
 
    Nein,  eben nicht. Das ist Unsinn. Wir haben amerikanischen Kampfflugzeugen  gestattet, über unser Territorium zu fliegen, und wir standen in Wahrheit immer  auf Seiten der NATO. Schweden war nicht neutral. Das war eine Lüge, die wir uns  selbst aufgetischt haben. Die Russen wussten das übrigens.
    
Wie haben Ihre  schwedischen Leser auf dieses Thema reagiert?
    Es gab  zwei Reaktionen. Die einen sagten: Gut, dass es mal jemand sagt. Die anderen  fanden, man sollte doch die Dinge ruhen lassen. Wie immer, wenn es um weniger  ruhmvolle Aspekte der Vergangenheit geht. Aber dazu habe ich in New York einmal  einen sehr interessanten Gedanken entdeckt. Es war ein Graffiti an einer  Häuserwand: »Man vergisst, was man nicht vergessen will und denkt nur das, was  man lieber vergessen hätte…«
    
…das ist auch das Motto des neuen  Romans und es trifft auf niemanden besser zu als auf Wallander selbst.  Zumindest was sein Privatleben angeht, war er immer ein Meister der  Verdrängung. Aber plötzlich gelingt ihm das nicht mehr. 
 
    Ja, das ist so. Wenn man  60 ist, gibt es ein paar Gewissheiten. Du weißt, mehr als die Hälfte deines  Lebens hast du bereits hinter dir. Nur sehr wenige Menschen werden 120. Das  heißt, du bewegst dich aufs Ende zu. Das ist die erste Tat- sache. Die zweite  hängt unmittelbar damit zusammen: Die wichtigsten Entscheidungen in deinem  Leben sind gefallen. Es ist sehr unwahrscheinlich und oft unmöglich, noch  einmal etwas ganz Neues anzufangen. Also ist es ein natürlicher Impuls,  rückwärts zu blicken. Und da tauchen all die Fragen auf: Was habe ich aus  meinem Leben gemacht? Welche Träume hatte ich, als ich jung war? Konnte ich sie  verwirklichen? Wenn nein, warum nicht? Es ist der ganz normale Prozess, den  Wallander durchmacht.
    
Sie sind genauso alt wie er, erleben  Sie das so? 
 
    Ja, aber ich muss vor  diesen Fragen keine Angst haben. Ich hatte großes Glück, und ich konnte in  meinem Leben genau das machen, wovon ich geträumt habe. Mir ist aber bewusst,  dass es nicht viele Menschen gibt, die das von sich sagen können.
    
Nach dem Alter kommt der Tod. Die Angst  vor dem Tod verfolgt Wallander schon vom ersten Roman an. Er hat zum Beispiel  unklare Schmerzen in der Brust – und schon fürchtet er einen Herzinfarkt.  Gleichzeitig versäumt er Arzttermine und vergisst, seine Medikamente zu  nehmen. Ein typischer männlicher Hypochonder. 
 
        Angst vor dem Tod hat  jeder Mensch, egal ob Mann oder Frau, und in unserer Gesellschaft gehört das  Sterben nicht zum Leben dazu. Das macht die Angst größer. Aber ich stimme Ihnen  zu, dass Männer die besseren Verdränger sind.
        
Wird Kurt Wallander denn im Fernsehen  noch ein wenig weiter leben? 
 
    Was die schwedischen Serien betrifft, nein. Aber Kenneth  Branagh wird noch einige Folgen drehen.
    
Welcher Film-Kommissar kommt Ihrer  eigenen Vorstellung von Wallander am nächsten? 
 
    Die beiden schwedischen  Darsteller habe ich mit ausgesucht, deswegen bin ich natürlich mit beiden  einverstanden. Und Kenneth Branagh ist sowieso brillant. Aber meiner ganz  persönlichen Vorstellung von Wallander entspricht keiner von ihnen. Wozu auch?  Es ist 
ihr Wallander, so wie jeder  Leser seinen eigenen Wallander im Kopf hat. Da draußen laufen wahrscheinlich  Millionen verschiedene Wallanders herum.
    
Die deutschen Leser lieben ihn  besonders, was, glauben Sie, fasziniert die Deutschen so sehr an diesem  schwedischen Kommissar? 
  Ich glaube, aber das trifft auf die Leser in Europa generell zu, es hat  damit zu tun, dass er ganz einfach menschlich ist. Wallander ist kein  »hardboiled hero«. Er verändert sich, er wird älter. Außerdem ist er in  bestimmter Hinsicht sehr durchschnittlich. Nehmen Sie seine Diabetes. Eine  Volkskrankheit. Oder können Sie sich James Bond vorstellen, wie er kurz auf die  Toilette geht, um sich eine Insulinspritze zu setzen?
  
Ist es außerhalb Europas  anders? 
  Das war für mich immer die  interessantere Frage: Was fasziniert Leser in Vietnam an Wallander? Warum mögen  ihn Leute aus Ecuador?
  
Und?
 
  Ich hoffe, es sind die gleichen  Gründe. Dass sie an ihm als Charakter interessiert sind. Aber es gibt sicher  auch einen exotischen Aspekt. Ich erinnere mich an eine Mail von einer  Übersetzerin, in der sie mich bat, ihr Schnee zu beschreiben. Es war verdammt  schwierig. Aber letztlich ist das einer der Gründe, warum wir die Literatur so  lieben: Weil sie Menschen aus der ganzen Welt in der Fantasie ein wenig näher  zusammen bringt.
  
Sie sagen, dieser  Wallander-Roman ist nun tatsächlich der letzte Fall. Gibt es trotz der vielen  Zeit, die Sie mit Ihrer Figur verbracht haben, Eigenschaften, die Sie noch  nicht von ihm kennen? Oder ist Wallander für Sie zu hundert Prozent entwickelt? 
 
  Nein, ich weiß nicht alles von ihm. Wenn ich Kenneth Branaghs BBC  Version von Wallander sehe, dann spüre ich das. So wie Kenneth Branagh das  macht, zeigt er mir viele Dinge über Wallander, die ich nicht wusste. Ich bin mir sicher, dass es viele Aspekte seines Charakters gibt, die  ich nicht kenne, denn ich weiß ja schließlich auch nicht alles über mich  selbst. Und Sie wissen nicht alles über sich, oder? Es gibt immer Orte, die in  einem liegen, die man nicht kennt. Das macht das Leben so spannend. Man kann  immer noch Geheimnisse in sich selbst finden. Und ich vermute, das gilt für  Wallander ebenso.
  
Ist es denkbar, dass Sie etwas  von Wallander lernen könnten? 
  Das ist eine gute Frage! Ich habe nie  darüber nachgedacht. Gratulation zu dieser Frage, denn das ist wirklich eine  neue Frage für mich. Offen gestanden, ich habe keine besonders intelligente  Antwort darauf. Aber ich glaube, es muss Situationen gegeben haben, in denen  ich überlegt habe, wie er wohl reagieren würde und die mir gezeigt haben: Ja  stimmt, auf diese Weise sollte auch ich reagieren. Aber ich bin ehrlich nicht  auf diese Frage vorbereitet. Vielen Dank! Nach zwanzig Jahren bekomme ich eine  Frage gestellt, auf die ich nicht vorbereitet war!
  
Bisher haben allein im  deutschsprachigen Raum über 20 Millionen die Wallander-Bücher gelesen.  Befürchten Sie keine Proteste, wenn Sie jetzt so endgültig Schluss machen? 
  Ach, nein. Wissen Sie, ich habe so  viele andere Bücher geschrieben. Die sind doch auch interessant.
  
  
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